Predigt von Kardinal Joachim Meisner zum 100. Geburtstag des seligen Josefmaria

Der Erzbischof von Köln beim Pontifikalamt am 19. Januar 2002 im Hohen Dom zu Köln

Der Kölner Erzbischof, Joachim Kardinal Meissner

Liebe Brüder, liebe Schwestern!

1. Heiligkeit war und ist bis heute noch für manche Christen ein kaum erstrebenswertes Ziel. Ein ganz normaler Christ zu sein, genügt den meisten schon, ohne dabei eigentlich sagen zu können, was ein normaler Christ ist. Vielleicht spielt hier ein altes Missverständnis in der Kirche in diese geringe Wertschätzung von wirklicher Heiligkeit mit hinein. Man war lange Zeit davon überzeugt, dass es zwei Wege in der Nachfolge Christi gebe: zum einen den Weg der sog. evangelischen Räte wie Armut, Gehorsam und Keuschheit, den man dem Wort Jesu gemäß den Weg der Vollkommenheit nannte und den die Ordenschristen weithin gehen und zum anderen den geringeren Weg der Gebote, der weniger vollkommen ist und den die Laienchristen größtenteils zu gehen haben. Die Praxis der Selig- und Heiligsprechungen schien das zu bestätigen: Der Weg der Gebote eröffnet kaum eine Chance zur Heiligkeit. Es wurden fast immer nur Ordenschristen und Priester oder Bischöfe heilig gesprochen. Diese Ansicht über die zwei Wege war weithin bis zum II. Vatikanischen Konzil die öffentliche Meinung in der Kirche.

2. Da erweckte der Heilige Geist vor fast 100 Jahren in Spanien einen Weltpriester, nämlich Josefmaria Escrivá, um gerade unseren Laienchristen zu sagen, dass Heiligkeit kein Privileg für besondere Gruppen in der Kirche ist, sondern die schlichte und selbstverständliche Berufung jedes Christen, ob im Kloster oder in der Welt. Der Weltchrist muss dabei nicht die Welt verlassen, um in Abgeschiedenheit zur Heiligkeit zu gelangen. Nein, die Welt - und zwar so wie sie ist - ist das normale Bewährungsfeld für den Weltchristen, wo er christliche Heiligkeit zu erlangen hat. Diese Entdeckung einer in den Hintergrund geratenen Realität in der Kirche durch den seligen Josefmaria Escrivá und seiner frühen Gefährten kam dann im II. Vatikanischen Konzil in Rom voll zum Ziel, indem in der bedeutendsten Konstitution dieses Konzils, nämlich in der Kirchenkonstitution, ein Kapitel "über die allgemeine Berufung zur Heiligkeit" aller Christen aufgenommen wurde. Es gibt nicht nur einen Weg - den der Ordenschristen - zur vollkommenen Heiligkeit. Nein, entsprechend seiner je eigenen Berufung muss jeder – ob Ordenschrist oder Weltchrist - den Weg zur Vollkommenheit gehen, den Gott für ihn vorhergesehen hat und für den ihm die notwendigen Charismen und Gaben von Gott geschenkt wurden. So gesehen kann man fast sagen: "Es gibt so viele Wege zu Gott wie es Menschen gibt."

3. Es ist daher in der Kirche keine Zweiklassengesellschaft vorhanden: die zur Heiligkeit Bestimmten und die zum normalen Christsein. Übrigens geht das auch schon deshalb nicht, weil in den Augen Gottes die Heiligen allein die Normal-Christen sind. Wäre das nicht so, dann läge hier eine unerträgliche Diskriminierung innerhalb der Kirche vor. Denn die Heiligkeit, die letztlich Vollendung in der Liebe ist, ist das Höchste, was dem Menschen gegeben werden kann, weil sie ihn ganz in die Nähe Gottes bringt und er wirklich ein wenig wie Gott wird. Und das ist allen Menschen mit der Gnade Gottes möglich: Frauen und Männern, Gelehrten und weniger Gelehrten, Greisen und Kindern, Afrikanern und Europäern, Laien und Klerikern. Diese Wirklichkeit wird leider im oft oberflächlichen Gerangel um die Ämter in der Kirche nicht genügend beachtet und bekommt von daher ein Gewicht, das ihr nicht zukommt. Die Heiligkeit und nicht das Klerikat ist unser aller Berufung und unsere alleinige Vollendung. Auf meine Entgegnung im Disput um die sogenannten Frauenordination: Heiligkeit ist das Ziel aller Wege, hörte ich als Antwort: "Für Heiligkeit kann ich mir nichts kaufen. Ich will Macht in der Kirche. Die gibt es nicht ohne Weihe." Das Amt aber steht nur im Dienst der Heiligkeit und nicht der Macht. Darum sind die Heiligen in der Kirche normativ.

Hier bemühe ich mich als Erzbischof und Kardinal, mit meinen in Ehe, Familie und Beruf bewährten drei Brüdern in der Nachfolge Christi Schritt zu halten. Meine wirksamsten Impulse für meine persönliche Heiligung habe ich doch im Beichtstuhl als Beichtvater empfangen, wenn ich erleben durfte, wie weit der Beichtende mir auf der anderen Seite des Gitters in der Nachfolge Christi voraus war. Und wie sehr hat es mich gelegentlich ermutigt, wenn er mir offenbarte, dass mein Weg als Priester ihm und seiner Familie eine so große geistliche Hilfe sei. Die Welt braucht heilige Weltchristen jeden Formats, heilige Ordensleute und heilige Priester, und wir alle bedürfen einander als Begleiter auf dem Weg zur Heiligkeit.

4. Dass uns unsere gemeinsame Berufung zur Heiligkeit heute nicht mehr fremd, sondern Allgemeingut der Kirche geworden ist, das haben wir auch dem seligen Josefmaria Escrivá zu verdanken. Er hat seine entscheidende Entdeckung nicht in akademischer Kühle vorgetragen und in frommen Theorien festgehalten. Sein Ansatzpunkt war die Praxis, indem er Gleichbegnadete, Gleichberufene und Gleichglaubende suchte und fand, um mit ihnen solche heute praktikablen Modelle der Heiligkeit zu probieren und zu definieren. Hier entdeckte der selige Josefmaria Escrivá den apostolischen Weg Jesu neu, der seine Jünger zu zweit zur Evangelisierung aussandte. Sie sollten in ihrem Verhalten zueinander gleichdeutlich machen, was sie den Menschen durch ihr Wort verkündeten. Dabei wird Josefmaria Escrivá im Evangelium deutlich, dass das Heilige Land für jeden Christen jener Ort ist, an den ihn Gott gestellt hat. Der verborgene Schatz der Heiligkeit ist für jeden dort erreichbar hinterlegt, wo ihn Gottes Wille hingeführt hat.

Um diese Wiederentdeckung der Berufung aller zur Heiligkeit zu Gunsten der Welt in die Kirche hineinzutragen, hat der selige Josefmaria Escrivá die halbe Welt bereist. 1952, also genau vor 50 Jahren, kam er zum ersten Mal nach Deutschland. Während seiner Aufenthalte hier bei uns in Köln in den Jahren zwischen 1955 bis 1960 besuchte er häufig unseren Dom und zelebrierte dabei immer die heilige Messe am Stefan-Lochner-Altar vor der Muttergottes mit den Kölner Stadtpatronen, und einmal feierte er die heilige Eucharistie in St. Andreas am Grab des heiligen Albertus Magnus. Er suchte gleichsam unter den bereits vollendeten Ortsheiligen Bundesgenossen für das ihm aufgetragene Werk der Heiligung hier und heute.

Darum ist unser Dom fast eine Escrivá-Gedenkstätte. Und ich bin meinen Vorgängern, Joseph Kardinal Frings und Joseph Kardinal Höffner, von Herzen dankbar, dass sie die damals hier ausgestreute Saat dann auch in unsere Erzdiözese Köln eingebracht haben, indem das Opus Dei, das Werk Escrivás, bei uns Fuß fassen konnte. Seine Gefährten und Gefähr-tinnen sind aus dem Leben und Wirken unserer Erzdiözese und unseres Vaterlandes heute nicht mehr wegzudenken.

5. Bei der Seligsprechung von Nikolaus Groß im vergangenen Oktober in Rom sagte mir eine Tochter des neuen Seligen: "Ich bin glücklich und stolz über diesen Tag. Das Bild unseres Vaters hängt an der Fassade von St. Peter in Rom. Das aber macht mir auch ein wenig Angst: Ich glaube, unser Vater gehört uns nun nicht mehr allein." Damit hatte sie sehr recht. Selig- und Heiligsprechungen bedeuten eine Entprivatisierung des Betreffenden in den Allgemeinbesitz der Kirche hinein. Der selige Josefmaria ist und bleibt der Gründer des Opus Dei, aber er gehört uns allen in der Kirche. Darum freuen wir uns mit den Mitgliedern des Opus Dei, dass wohl bald unser gemeinsamer Seliger heilig gesprochen wird. "Wenn (...) ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm" (1 Kor 12,26). Mitgegangen – mitgehangen an der Fassade von St. Peter.

Auf Bitten des Heiligen Vaters wurden Martyrologien des 20. Jahrhunderts in allen Völkern der Welt erarbeitet, in denen die einzelnen Glau-benszeugen verzeichnet sind. Darin wurden so viele Weltchristen vermerkt, dass man nur hoffen kann, dass viele aus diesen Verzeichnissen ihrer Ortskirchen bald in das Verzeichnis der Seligen und Heiligen der Gesamtkirche überwechseln können.

Unser Heiliger Vater hat darin wirkliche Maßstäbe gesetzt, denn kein Papst vor ihm hat so viele Selig- und Heiligsprechungen vorgenommen, wie gerade dieser Papst. Was Papst Johannes Paul II. zum Abschluss des Jubiläumsjahres 2000 für die Zukunft in seinem berühmten Apostolischen Schreiben "Novo millenio incunte" geschrieben hat, hört sich an wie der Ertrag des Lebens und Wirkens des seligen Josefmaria Escrivá: "Die Wiederentdeckung der Kirche als 'Geheimnis' oder als 'das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes hier geeinte Volk' musste auch zur Wiederentdeckung ihrer 'Heiligkeit' führen. Heiligkeit ist hier im grundsätzlichen Sinn verstanden als Zugehörigkeit zu dem, der eigentlich der Heilige, ja 'der dreimal Heilige' ist. (vgl. Jes 6,3). Das Bekenntnis zur 'heiligen' Kirche bedeutet, auf ihr Antlitz als Braut Christi zu verweisen, für die er sich gerade deshalb hingegeben hat, um sie zu heiligen (vgl. Eph 5,25-26). Dieses Geschenk der Heiligkeit ist sozusagen 'objektiv'. Es ist jedem Getauften angeboten. Doch setzt sich das Geschenk seinerseits in eine Aufgabe um, die die ganze christliche Existenz leiten muss. 'Das ist es, was Gott will: eure Heiligkeit' (1 Thess 4,3). Dieser Auftrag betrifft nicht nur einige Christen: 'Alle Christgläubigen jedes Standes oder Ranges sind zur Erfüllung des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen.' " (Nr. 30). Die Welt wartet auf eine Kirche der Heiligen. Weltverbesserer findet sie in den eigenen Reihen. Bei Heiligen ist sie auf uns allein angewiesen. Werden wir sie nicht enttäuschen!? Dazu verhelfe uns der selige Josefmaria Escrivá. Amen.